Fr. 31.05.2002
Weitere Eskalation des Themas Antisemitismus Kontroverse um Manuskript des neuen Walser-Romans "Tod eines Kritikers"
Dem Autor wird vorgeworfen, er bediene "antisemitische Klischees", Martin Walsers Buch sei ein "Dokument des Hasses". Walser weist Vorwürfe entsetzt zurück.
Streit um Walsers neuen Roman
Fr.31.05.02 - Um das Manuskript des neuen Romans von Martin Walser
ist ein heftiger Streit entbrannt: Nachdem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
einen Vorabdruck des Werkes "Tod eines Kritikers" mit der Begründung
abgelehnt hatte, es sei ein "Dokument des Hasses" mit "antisemitischen
Klischees", äusserte sich der Autor empört und drohte mit rechtlichen Schritten.
Rückhalt erhielt Walser von seinem Verlag; dagegen forderten Antisemitismus-Aktivisten,
das Buch nicht zu veröffentlichen.
"FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher hatte die Ablehnung des Manuskripts am Mittwoch in
einem im Feuilleton veröffentlichten Offenen Brief an Walser erläutert. Das Buch, in dem es um den
"Mord an einem Juden" gehe, sei eine Abrechnung mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
"Ihr Roman ist eine Exekution", schrieb Schirrmacher. "Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung
gegen Polen formulierte, die Sie in Ihrem Roman so irrwitzig parodieren, war dies auch eine Kriegserklärung an
den damals in Polen lebenden Marcel Reich und seine Familie", erklärte er und fragte Walser: "Verstehen Sie,
dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen
Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten
werden?"
Walser zeigte sich empört über den Artikel, der "gegen jeden Brauch und Anstand" verstosse. Der Schriftsteller
bezeichnete die Inhaltswiedergabe der "FAZ" gegenüber AP als "reinsten Unsinn". "Das Buch erzählt die
Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb [ 1 ] zur Zeit des Fernsehens. Wie Schirrmacher dazu
kommt, dieses Thema auf den Holocaust zu beziehen, weiss ich nicht."
Am wenigsten begreife er, "dass Schirrmacher gegen jeden Brauch und Anstand über ein Buch schreibt und
urteilt, das noch nicht erschienen ist". Das Manuskript sei der "FAZ" zur Prüfung eines Vorabdrucks überlassen
worden. "Wenn sie das nicht wollten, hätte eine Mitteilung an den Verlag genügt." Walser sagte der AP, er halte
juristische Schritte gegen die Zeitung für erforderlich.
Rückendeckung erhielt Walser vom Suhrkamp-Verlag. Verlagsleiter Günter Berg sagte in einem Interview der
Tageszeitung "Die Welt", das Buch sei nicht zitierfähig gewesen, aber trotzdem zitiert worden. "Martin Walser ist
doch nicht der Möllemann der deutschen Literatur. Und in diese Rolle kann ihn auch Frank Schirrmacher nicht
drängen." Literatur mit Realität abzugleichen, habe nichts mit literarischer Kritik zu tun, sondern mit Boshaftigkeit.
Der Verlag werde jetzt versuchen, das Erscheinen des Buches von August auf Juli vorzuziehen, dem Drängen des
Autors aber widerstehen, es sofort zu publizieren, sagte Berg der Zeitung.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat den neuen
Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser als "erbärmlich" bezeichnet. Er
fühle sich als "Betroffener" und warf Walser vor, leicht erkennbare Personen
lächerlich zu machen und zu denunzieren. Das sagte Reich-Ranicki in Frankfurt.
Das Berliner Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus nannte das Buch "eine beispiellose Verhöhnung
der Holocaust-Überlebenden". Daher forderte das Bündnis den Suhrkamp Verlag auf, sofort zu erklären, dass
"dieses antisemitische Machwerk nicht in seinem Hause erscheinen wird". Stattdessen solle man es dem
Buchversand ultrarechter Zeitungen überlassen.
[ 1 ] ''Machtausübung im Kulturbetrieb'' - Debatte um Walsers neuen Roman
Im Land des Holocaust wird wieder heftig über Juden gestritten
Für Deutschland bedeutet der absehbare Skandal um das neue Werk Walsers nach den Anschuldigungen
des FDP-Vizes Jürgen Möllemann, Juden selbst seien für wachsenden Antisemitismus verantwortlich, eine
weitere Eskalation des Themas. Im Land des Holocaust - 57 Jahre nach dem Ende des Nazi-Schreckens - wird
wieder heftig und emotional über Juden gestritten. Nicht nur populistische Versuchungen der FDP,
könnten bewirken, dass das Thema auch im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen wird -
dabei geht der hoch emotionale Streit aber quer durch alle politischen Gruppierungen des Landes.
Dies wird insbesondere in der FDP deutlich, wo Otto Graf Lambsdorff oder Hildegard Hamm-Brücher empört
auf die populistischen Töne Möllemanns reagiert hatten. Möllemann hatte neben Israels Regierungschef Ariel
Scharon vor allem den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, ins Visier genommen. Walser
knüpft sich nun in seinem Roman laut Schirrmacher den jüdischen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki vor -
kaum verhüllt unter dem Pseudonym "André Ehrl-König".
Schirrmacher, der Walser noch 1998 auf dessen Wunsch als Laudator bei der Verleihung des Friedenspreises als
großen deutschen Schriftsteller würdigte, ist sichtlich fassungslos über Walsers neues Buch. Der
FAZ-Feuilleton-Chef verweigert öffentlich den Vorabdruck von "Mordphantasien", dem literarischen Spielen mit
"Hitler-Sprache" und einer Diffamierung des 82-jährigen Reich-Ranicki, der mit seiner Frau als einziger seiner
Familie der Ermordung durch die Nazis entging.
Die jüngste Entwicklung scheint drei Jahre nach seinem Tod den ehemaligen Zentralrats-Präsidenten Ignatz Bubis
mit seinen düsteren Vorahnungen zu bestätigen. Bubis hatte vor allem der geistigen und politischen Elite
Deutschlands vorgeworfen, viel zu wenig gegen den wachsendem Antisemitismus zu tun. Und ausgerechnet
Walser war es damals, den Bubis der "geistigen Brandstiftung" beschuldigte. Walser hatte in seiner
Friedenspreisrede 1998 [ 2 ] gegen die angebliche "Instrumentalisierung von Auschwitz" und die "unaufhörliche
Präsentation der Schande" gewettert - und vom illustren Publikum in der Paulskirche in Frankfurt Ovationen
erhalten.
Nachdem nun schon seit Jahren jüdische Schulen, Kulturzentren und Synagogen in Deutschland nach zahllosen
Drohungen und einigen Anschlägen streng bewacht werden müssen, jüdische Friedhöfe immer wieder geschändet
werden, hat, wie von Bubis vorausgesagt, die intellektuelle Auseinandersetzung um die Rolle der Juden begonnen.
Der Publizist Henryk M. Broder spricht neben dem "reaktionären Antisemiten", der den Holocaust leugne, vom
"aufgeklärten Antisemiten", der sich zwar vordergründig von Rassismus und Naziverbrechen distanziere und sich
sogar als Freund Israels darstelle. Derselbe beschuldige dann aber die Juden, Nutzen aus dem Holocaust zu
ziehen, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben und letztendlich selbst schuld am Antisemitismus zu sein.
Letzteres ist eines der ältesten antisemitischen Argumente - auch die Nazis beschuldigten die Juden, im Grunde
selbst für ihr Schicksal verantwortlich zu sein.
Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Jamal Karsli durfte den Tabubruch am weitesten treiben - er
sprach in seinen Angriffen auf Israel und den Juden in Deutschland von zionistischer Weltverschwörung und der
weltweiten jüdischen Medien-Lobby. Walser, mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder erst vor kurzem
öffentlich die intellektuelle Auseinandersetzung über Nation und Patriotismus suchte, scheint mit seinem Buch -
folgt man den Ausführungen Schirrmachers - eben in der geistigen Welt Jamal Karslis angekommen zu sein.
"Schon fließt auch der tiefsitzende Hass wieder offen, der einst zum Holocaust geführt hat und dann im
demokratischen Deutschland gedeckt wurde", kommentiert laut dpa der liberale Publizist Heribert Prantl.
[ 2 ] "Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede"
In seiner umstrittenen Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hatte der Schriftsteller Martin Walser die Instrumentalisierung des Holocausts bemängelt: "Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung." Daraufhin warf ihm der Zentralrat der Juden "geistige Brandstiftung" vor. Zur Kontroverse um die Rede von Martin Walser
hat der Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur am Institut für Neuere Geschichte
(Ludwig-Maximilians-Universität München) eine umfangreiche Dokumentation,
mit ausgewählten Beiträgen u.a. von Ignatz Bubis, Klaus von Dohnanyi erstellt.
Martin Walsers umstrittene Rede zur Verleihung des Friedenspreises 1998
Martin Walser im Netz
Do.23.05.02
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